Gedanken zur Jahreslosung 2023 “Du bist ein Gott, der mich sieht” (1Mose 16,13)

„Der liebe Gott sieht alles, aber die lieben Nachbarn noch viel mehr.“ Solche Nachbarn wünsche ich niemandem im Neuen Jahr. Hingegen wünsche ich uns allen, dass der liebe Gott alles sieht und zwar alles Leid, alles Unglück, alles Unrecht, und dass er es nicht nur sieht, sondern dass er es auch uns sehen lässt, und dass er auf unser Flehen reagiert. Auf unser Flehen, auf unsere Gebete, auf unser Schreien, auf die Schreie seiner Menschenkinder. Denn dass Gott uns hört, das glaubt jeder, der betet. In der Bibel gibt es sogar einen Menschen, der so heißt: Ismael = Gott hört.

Dieser Ismael ist gar nicht so bekannt wie sein Halbbruder Isaak. Ismael war der erstgeborene Sohn Abrahams, allerdings nicht mit Sara, seiner Frau, sondern mit Saras Magd Hagar. Das kam so: Abraham und Sara waren sehr verzweifelt, dass sie immer älter wurden und kein Kind bekamen, trotz der Verheißung, die immer wieder erneuert wurde. Da gab Sara ihrem Mann selbst den Rat: Geh zu meiner Magd und zeuge mit ihr ein Kind. Und so geschah es, und Hagar wurde schwanger und gebar Abraham einen Sohn, den nannte er Ismael: „Gott hört“. Aber wie das Leben so spielt, plötzlich wurde Hagar selbstbewusst und überhob sich über Sara; Sara empfand das jedenfalls so. Da verstieß sie Hagar mit Ismael in die Wüste. In der Wüste war Hagar ganz allein mit Ismael und sie war verzweifelt und todunglücklich. Aber Gott sah ihr Elend und hörte ihr Flehen und kam zu ihr in Gestalt eines Engels. Und der Engel hörte ihr zu und redete mit ihr. Und das tat Hagar so wohl, dass Gott sie angesehen und mit ihr gesprochen hatte, dass sie zu ihm sagte: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“

„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Sehen ist in diesem Zusammenhang mehr als Hören. Denn Sehen bedeutet ja, Gott sieht mich auch, wenn ich nicht rufe, wenn ich ihn nicht anrufe. Das gilt dann sowohl für Agnostiker und Atheisten als auch für Menschen, die noch gar nicht da sind. Im Psalter gibt es einen Vers, der lautet: „Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht geboren war…“ Sehen ist auch Voraussehen und Vorhersehen. Gott hat mich schon gesehen, als ich noch gar nicht da war. Er hat mich vorhergesehen und mein Leben und meinen Weg in seinen Weltenplan eingeplant. Er hat mir einen Weg bereitet. Und er weiß auch, wohin dieser Weg im neuen Jahr führen wird.

Und es geht noch weiter. Hagar meint: „Du bist ein Gott, der mich ansieht.“ Die Augen sind ja nicht nur ein Sinnesorgan, sondern auch ein Kommunikationsinstrument. Für ein kleines Kind ist das liebevolle Gesicht der Mutter genauso wichtig wie die Milch, ein Lebensmittel. Und in der Liebe ist es auch so: Die Liebe beginnt mit dem Anschauen, mit dem Ansehen. Man „verguckt sich“ in einen anderen, in eine andere. Man ist fasziniert, dass man nicht wegschauen kann. Umgekehrt tut es unglaublich gut, angeschaut zu werden, wenn es mit den Augen der Wertschätzung oder der Bewunderung oder sogar mit den Augen der Liebe geschieht. Nicht umsonst sind im Deutschen das Ansehen und das Ansehen, im Sinne der Anerkennung, ein- und dasselbe Wort. Jemand ist angesehen, der angesehen wird.

Unser Bibelvers erzählt davon, dass Gott eine Frau ansieht, eine Magd, einen Flüchtling, im alten Orient alles keine Personen oder Rollen, die besonders angesehen waren. Niemand sah sie an, aber Gott sieht sie an. Und das will ich für ein Wesensmerk­mal Gottes halten, weil wir das auch von Jesus kennen, wie er die „underdogs“ seiner Zeit, die Frauen und die Sklaven und die Aussätzigen und die Kinder angeschaut hat, und so will ich mich darauf verlassen, dass er auch mich ansieht, wenn ich unansehnlich bin, wenn ich traurig bin oder dumm oder böse. Und dass er mich dann auch mit den Augen der Liebe ansieht, und mir das Dumme und das Böse nach-sieht und nicht nachträgt.

Doch es geht nicht nur um mich. Ich will mich auch darauf verlassen, dass dieser liebevolle Blick Gottes all denen gilt und all denen Mut macht, die in diesen Tagen und Wochen unter Krieg, Tyrannei, Bomben, Flucht, Unterdrückung leiden müssen. In der Geschichte erscheint Gott der Hagar als Engel. Ich wünsche Ihnen, allen Leserinnen und Lesern, dass Ihnen im Neuen Jahr viele Engel begegnen, und dass Sie selbst für andere zum Engel werden.

Ihr Pfarrer Bernhard Schmidt